Ein Kaltstart war die Veranstaltung mit Carsten Stahl nicht. Der aus dem Fernsehen bekannte Anti-Mobbingexperte besuchte die Ratsschüler am zweiten von drei Projekttagen zum Thema „#No hate – aktiv für Respekt und Toleranz“. Das Konzept hatten die Schulsozialarbeiterinnen Tanja Flade und Elena Sandfort mit den Lehrern Corinna Berstermann, Vanessa Harvey, Marion Neumann, Nils Schäffer und Marietta Vortkamp entwickelt. Dabei war Carsten Stahl der prominenteste Gast. Aber auch „Coolnesstrainer, eine Jugendrichterin und eine Sozialpädagogin aus dem Jugendknast arbeiteten mit den Schülern.  „Wir wollten durch diese Projekttage als eine der ersten Meller Schulen eine Signalwirkung erzielen und reagieren, bevor sich Mobbinggeschehnisse verfestigen“, so Flade.

 

„Politiker haben nur einen Job auf Zeit“

Vor dem Forum warten schon 300 Ratsschüler. Noch dürfen sich nicht eintreten. Die Jahrgänge 5 und 6 sollen in den ersten Reihen sitzen. Dann kommt der Mann aus dem Fernsehen. Carsten Stahl bahnt sich den Weg durch über 300 Ra 300 Ratsschüler. Das fällt ihm leicht, seine Schultern sind breit.

„Stoppt Mobbing“ steht auf der Rückseite seines Shirts. Es ist Teil der bundesweiten Kampagne, der sich auch Hannover 96 angeschlossen hat und für ein Bundesligaspiel auf dem Trikot getragen hat. Stahl hat eines dieser Trikots dabei und zeigt es auf der Bühne. Stahl weist auf die Bedeutung solcher Aktionen hin: „Weil dort die Politik langsam ist und zum Teil auch schläft. Jetzt kommen immer öfter Politiker aus zweierlei Interesse. Weil es wichtig ist und weil sie es nutzen wollen.“ Stellen sich die Politiker also aus Opportunismus mit ihm aufs Foto? „Bald sind wieder Wahlen“, so Stahl zu den Schülern, „aber es wird nicht mehr lange dauern, bis jedes Bundesland mitmachen wird. Der Grund: Weil die Eltern es fordern. Sonst müssen die Politiker gehen, der Job ist nur auf Zeit.“

Im verbalen Visier hat Stahl auch Niedersachsen Kultusminister: „Ein Politiker ist Angestellter des Volkes, lieber Herr Tonne. Sonst müssen sie gehen“, ruft Stahl von der Bühne, „macht unser Land sicherer und schützt die Kinder und Lehrer vor einem Problem, das wir an lallen Schule haben: dem Mobbing.“

 

Als Stahls Sohn am zweiten Schultag heim kam, änderte das sein Leben

Von den Lehrern kannte kaum jemand Carsten Stahl, als Schulsozialarbeiterin Tanja Flade das Projekt in einer Dienstbesprechung vorstellte. Die Fernsehsendung „Stahl:hart gegen Mobbing“ läuft bei RTL2. Lehrer nicht die alleinige Zielgruppe.

„Ein Ereignis hat mich von einen auf den anderen Tag verändert. Ich bin Vater von zwei Kindern. Meine beiden Kinder sind das Wichtigste in meinem Leben. Wenn Ihr später Kinder habt, wird in erster Linie eurer Kind wichtig.“

Vor fünf Jahren sei es gut bei ihm gelaufen. Er machte eine Sendung und verdiente eine Menge Geld als Hauptdarsteller. „Dann ist etwas passiert, das mein Leben komplett aus der Bahn warf.“

Stahls Sohn Nicolai sei mit fünfeinhalb Jahren eingeschult worden. Einschulung am Samstag, dann erster richtiger Schultag am Montag. 13.30 Uhr zurück. Nicolai erzählt von Erlebnissen eines schönen ersten Schultages.

„Ich komme aus Berlin-Neukölln und darum bin ich auch etwas lauter.“ Stahl kommt ohne Mikro aus. „Neukölln Ist schön. Aber eine der kriminellsten Gegenden in Deutschland. Dort bin ich aufgewachsen. Es hat mir viel beigebracht. Aber ich habe Dinge gesehen, die ich gerne vergessen würde “

Jetzt in Köpenick, das sei ein guter Stadtteil. Dort habe er eine Schule gesucht  für seine Ableger. Er dachte,  er habe alles richtig gemacht.

Dann der zweiter Schultag von Nicolai. Der komm nach Hause, geht ins Wohnzimmer. Sein Sohn schreit die fragende Tochter an: „Halt die Fresse, fick Dich.“ Die Worte kannte Stahl von Nicolai bis dahin nicht. „Ich bin fast vom Stuhl gefallen. Ich war schockiert und verdammt traurig. Mein Junge hatte blutige Nase und Lippe.“ Und Nicolai flehte seinen Vater an: „Bitte schicke mich nie wieder in die Schule. Papa ich schwöre: Ich habe nichts getan.“ Nach zwei Tagen in Obhut des Berliner Schulsystems schwor sich Stahl: „Was mir passiert ist, darf ihm nicht passieren. Ich habe am nächsten Tag in der Schule eingefordert: Sie werden handeln.“

Stahl bemängelt dann fehlendes Engagement im Schulbetrieb und zielt wieder auf verantwortliche Politiker auch in Niedersachsen. „Es gibt keine Projekte vom Schulsystem, die Schüler drei Stunden fesseln. Es ist schmerzhaft, wenn man er Wahrheit ins Gesicht sehen muss, Herr Tonne.“ Stahl dagegen fesselt die Ratsschüler einen Vormittag. So, wie er das überall macht an den Schulen die ihn einladen. Er ist überzeugt von seinem Konzept, er reißt die Jugendlichen auch in Melle emotional mit.

Aus der Liebe zu seinem Sohn sei das „Camp Stahl“ entstanden. „Dafür habe ich meine Fernsehkarriere als Schauspieler beendet.

 

Schimpfwörter wie an jeder Schule

Dann lässt er die Meller Schimpfwörter ins Mikro sprechen, die sie vom Schulhof kennen. Eine Mitschülerin steht auf der Bühne und schreibt die fiesen Aussagen aufs Flipchart. Die Meller schaukeln sich gegenseitig hoch, lachen sogar über die widerlichen Wörter.

Plötzlich wird der laute Stahl ganz leise. „Ich als Vater von zwei Kindern. Ich persönlich weiß nicht, was ich trauriger und beschämender finde, dass Ihr all diese Worte sagt und kennt, oder dass Ihr darüber lacht und klatscht“.

Auch die Ratsschüler rühren sich jetzt nicht. Die Scham steigt wohl auf. „Ich sehe Worte, die zutiefst verletzend sind. Ich bin ein Vorbild für Millionen von Menschen“, meint Stahl und wird ironisch, „das habt Ihr richtig gut gemacht. Schüler klatscht. Bevor Du Deine Hände benutzt, benutze Dein Gehirn. Das beweist und zeigt auf, wie roh unsere Kinder schon im Umgang mit diesen Worten sind. Dass sie sich applaudieren, sie feiern die schlimmsten Beleidigungen. Das ist Gruppendynamik. Das erleb ich an jeder Schule. Das ist eine Grundlage für Mobbing.“

Nun schriebt er auf das Flipchart Artikel 1 des Gurndgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Aber die bösen Worte seinen „Kugeln und der Mund ist eure Waffe, die Ihr auf andere Menschen abfeuert“.

Mobbing sei ausgrenzen und ausschließen. Es beginne oft schon mit Lästereien. Stahl  ring ein Fallbeispiel:  Kleiner dicker Junge, rote Haare mit Sommersprossen. Er wurde auf dem Schulweg getreten, wollte nicht mehr in die Schule gehen, wurde verprügelt und in einer Baugrube liegengelassen. „Der Kleine ist fast gestorben.“ Carsten Stahl löst die Geschichte auf: „Der kleine Junge war ich. Ich höre euch nicht lachen. Der kleine Junge war ich. Mich hat man getreten, geschlagen und angepisst. Ich habe niemandem was getan. Ich wollte nur leben.“ Die Meller sind beeindruckt. „So macht man Prävention“, ruft Stahl ins Publikum.

Und schon damals habe das Schulsystem keine Ahnung gehabt. „ich dachte, dass das Schulsystem gelernt habe. Hier ist die Narbe“, zeigt Stahl auf seinen Kopf, „ich habe erlebt, wie sich Mobbing anfühlt und wie es zerstört. Ich lasse mir von einem Politiker oder verantwortlichen des Schulsystems erzählen, das Mobbing harmlos ist. Mobbing tötet Menschen.“

 

Mobbing gibt es an jeder Schule

Stahl stellt klar, dass es bei dem Vormittag im Forum nicht um ihn als bekannten Fernsehmann gehe. „Ihr habt alle gelatscht, als der Direktor Jansen mich ankündigte. Weil Carsten Stahl da ist, der große Held. Bin ich in euren Augen als Opfer von Mobbing ein Loser? Ein Schwächling? Weil ich den Mut habe, das zuzugeben?“

Von den 10 Millionen deutschen Schülern sitzen etwa 100.000 genau jetzt in der Schule und haben Angst, das ihnen etwas passiert, wenn die Schule aus ist.“

Mobbing sei weit mehr als ein Wort. Wegen Mobbing in Deutschland bringe sich jeden zweiten Tag ein Kind in Deutschland um. „Ich war auf sechs Beerdigungen. Der Jüngste war sechs Jahre alt. In Deutschland haben wir in jeder Woche 500.000 bis eine Million Mobbingfälle. Und in Deutschland gab es drei Amokfälle: Erfurt, Winnenden und München.“

Was mache die Politik zum Thema Mobbing? „Sie wollen es nicht sehen, hören oder darüber reden. Und das deutschlandweit. Und ich ertrage das nicht. Nur weil man Angst hat, dass man wegschaut, weil ein Thema auf den Tisch kommt.“

 

„Ich bin nicht von Herrn Tonne geschickt worden.“

Dann lobt Stahl auch mal „Ihr habt an der Ratsschule einen Direktor. Ludger Jansen, der eure Schule führt, der für euch da ist und versucht für euch etwas zu verändern. Das sind die einen 50 Prozent die sagen, ich versuche das zu verändern. Dann gibt es die anderen 50 Prozent der Direktoren in Deutschland“, so Stahl, „die anderen lügen. Die sagen, es gebe kein Mobbing an der Schule. Aus Angst um den Ruf der Schule in der Öffentlichkeit und der Angst vor der Schulbehörde.“ Allein letztes Jahr habe es 46.000 Gewalttaten an Lehrern gegeben. „Ich möchte euch heute zum Thema Mobbing sensibilisieren. Ich bin nicht vom Kultusminister Herrn Tonne geschickt worden. Er war`s“, erklärt Stahl und zeigt auf Schulleiter Jansen. Zeigte zum Direktor Jansen.

„Heute ist der Tag der Gemeinschaft für mehr Respekt und Toleranz an der Schule“, sagt Stahl und holt ein Plakat mit dem „Stoppt Mobbing“- Logo hervor. Alle Schüler unterschreiben. Schon bald hängt es in der Pausenhalle. Und als laminierte Fotografie in jedem Klassenraum.

Aber nicht nur die Schule sieht Stahl in der Pflicht. „Respekt und Toleranz muss vom Elternhaus vermittelt werden. Wenn nicht, dann haben wir die Kinder eben so in der Schule.“ Enttäuscht ist Stahl von Teilen der Politik. „Am 30. Januar hatte ich einen Termin mit eurem Kultusminister Tonne. Da ist was vom Ministerium was dazwischen gekommen. Tonne hatte einen Termin gemacht, er hatte ihn gecancelt. Ich komme nicht noch einmal. Selbst wenn er krank gewesen ist, muss er sofort einen Termin machen.“